[›Er‹]

Er war früher Teil

einer monumentalen Gruppe. Um irgend­eine erhöhte Mitte standen in durch­dachter An­ordnung Sinn­bilder des Sol­daten­standes, der Künste, der Wissen­schaften, der Hand­werke. Einer von diesen vielen war er. Nun ist die Gruppe längst auf­gelöst oder wenig­stens er hat sie ver­lassen und bringt sich allein durchs Leben. Nicht einmal seinen alten Beruf hat er mehr, ja er hat sogar ver­gessen, was er damals dar­stellte. Wohl gerade durch dieses Ver­gessen ergibt sich eine gewisse Trau­rig­keit, Un­sicher­heit, Unruhe, ein ge­wisses die Gegen­wart trüben­des Verlangen nach den ver­gangenen Zeiten. Und doch ist dieses Ver­langen ein wichti­ges Element der Lebenskraft oder vielleicht sie selbst.

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Alles, was er tut, kommt ihm zwar außer­ordent­lich neu vor, aber auch entsprechend dieser un­mög­lichen Fülle des Neuen außer­ordentlich dilettan­tisch, kaum einmal er­träg­lich, unfähig histo­risch zu werden, die Kette der Ge­schlech­ter spren­gend, die bisher immer wenigstens zu ahnen­de Musik der Welt zum ersten­mal bis in alle Tiefen hinunter ab­brechend. Manchmal hat er in seinem Hoch­mut mehr Angst um die Welt als um sich.

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Er hat das Gefühl, daß er sich dadurch[,] daß er lebt[,] den Weg ver­stellt. Aus dieser Behinderung nimmt er dann wieder den Beweis dafür, daß er lebt.

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Er lebt nicht wegen seines persönlichen Lebens, er denkt nicht wegen seines persön­lichen Denkens. Ihm ist[,] als lebe und denke er unter der Nötigung einer Familie[,] die zwar selbst überreich an Lebens- und Denk­kraft ist, für die er aber nach irgend­einem ihm unbekannten Gesetz eine for­melle Not­wendig­keit be­deu­tet. Wegen dieser un­bekann­ten Familie und dieser un­bekannten Gesetze kann er nicht ent­lassen werden.

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Er lebt in der Zerstreuung

. Seine Elemente, eine frei lebende Horde, umschweifen die Welt. Und nur weil auch sein Zimmer zur Welt gehört sieht er sie manchmal in der Ferne. Wie soll er für sie die Verantwortung tragen? Heißt das noch Verantwortung?

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Er ist bei keinem Anlaß genügend vorbereitet, kann sich des­halb aber nicht einmal Vorwürfe machen, denn wo wäre in diesem Leben, das so quälend in jedem Augen­blick bereit­sein verlangt, Zeit sich vor­zu­berei­ten[,] und selbst wenn Zeit wäre, könnte man sich denn vor­berei­ten, ehe man die Auf­gabe kennt[,] d. h. kann man über­haupt eine natürliche, eine nicht nur künstlich zu­sammen­gestellte Auf­gabe be­stehn? Deshalb ist er auch schon längst unter den Rädern, merk­würdiger aber auch tröst­licher Weise war er darauf am wenig­sten vorbereitet.

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Ein segmentartiges Stück ist ihm aus dem Hinterkopf herausgeschnitten. Mit der Sonne schaut die ganze Welt hinein. Ihn macht es nervös, es lenkt ihn von der Arbeit ab, auch ärgert er sich, daß gerade er von dem Schauspiel ausgeschlossen sein soll[.]

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Er ist weder kühn, noch leichtsinnig. Aber auch ängstlich ist er nicht. Ein freies Leben würde ihn nicht ängstigen. Nun hat sich ein solches Leben für ihn nicht ergeben, aber auch das macht ihm keine Sorgen; wie er sich über­haupt um sich selbst keine Sorgen macht. Es gibt aber einen ihm gänz­lich un­bekann­ten jemand, der sich um ihn[,] nur um ihn[,] große fort­währen­de Sorgen macht. Diese ihn be­treffenden Sorgen des Jemand, beson­ders das Fort­währen­de dieser Sorgen[,] verursachen ihm manch­mal in stiller Stunde quälende Kopfschmerzen.

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Alles ist ihm erlaubt

[,] nur das Sich-vergessen nicht, womit aller­dings wieder alles verboten ist bis auf das eine, für das Ganze augenblick­lich Notwendige.

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Mit einem Gefängnis hätte er sich abgefun­den. Als Gefangener enden — das wäre eines Lebens Ziel. Aber es war ein Gitter­käfig. Gleich­gültig, herrisch, wie bei sich zuhause strömte durch das Gitter aus und ein der Lärm der Welt, der Gefan­gene war eigent­lich frei, er konnte an allem teil­nehmen, nichts ent­gieng ihm draußen, selbst verlassen hätte er den Käfig können, die Gitter­stangen standen ja meter­weit aus­einan­der, nicht einmal gefangen war er.

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Sein eigener Stirnknochen verlegt ihm den Weg (an seiner eigenen Stirn schlägt er sich die Stirn blutig)[.]

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Er fühlt sich auf dieser Erde gefangen, ihm ist eng, die Trauer, die Schwäche, die Krankheiten, die Wahn­vor­stellungen der Gefan­genen bre­chen bei ihm aus, kein Trost kann ihn trösten, weil es eben nur Trost ist, zarter kopf­schmerzen­der Trost gegen­über der groben Tat­sache des Ge­fangen­seins. Fragt man ihn aber, was er eigent­lich haben will, kann er nicht antwor­ten[,] denn er hat — das ist einer seiner stärk­sten Beweise — keine Vorstellung von Freiheit.

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Er hat den Archimedischen Punkt gefunden, hat ihn aber gegen sich aus­genützt, offenbar hat er ihn nur unter dieser Bedingung finden dürfen[.]

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Er hat zwei Gegner

, der Erste bedrängt ihn von rück­wärts vom Ursprung her, der zweite ver­wehrt ihm den Weg nach vorne. Er kämpft mit beiden. Eigentlich unter­stützt ihn der Erste im Kampf mit dem Zweiten, denn er will ihn nach vorn drängen[,] und ebenso unterstützt ihn der Zweite im Kampf mit dem Ersten, denn er treibt ihn doch zurück. So ist es aber nur t[h]eore­tisch, denn es sind ja nicht nur die 2 Gegner da, sondern auch noch er selbst und wer kennt eigent­lich seine Absichten?

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Sich kennt er, den andern glaubt er, dieser Widerspruch zersägt ihm alles.

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Er beweist nur sich selbst, sein einziger Beweis ist er selbst, alle Gegner besiegen ihn sofort, aber nicht dadurch, daß sie ihn widerlegen, er ist unwider­legbar[,] sondern dadurch[,] daß sie sich beweisen.

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Er hat viele Richter, sie sind wie ein Heer von Vögeln, das in einem Baum sitzt. Ihre Stimmen gehen durcheinander, die Rangs- und Zuständig­keits­fragen sind nicht zu entwirren, auch werden die Plätze fortwährend gewechselt. Einzelne erkennt man aber doch wieder heraus[.]

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»Du machst aus Deiner Not eine Tugend.«
»Erstens tut das jeder und zweitens tue gerade ich es nicht. Ich lasse meine Not Not bleiben, ich lege die Sümpfe nicht trocken, sondern lebe in ihrem fiebrigen Dunst.«
»Daraus eben machst Du Deine Tugend[.]«
»Wie jeder, ich sagte es schon. Im übrigen tue ich es nur Deinetwegen; damit Du freundlich zu mir bleibst, nehme ich Schaden an meiner Seele.«

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Manche leugnen den Jammer durch Hinweis auf die Sonne, er leugnet die Sonne durch Hinweis auf den Jammer.

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Er will keinen Trost

, aber nicht deshalb weil er ihn nicht will — wer wollte ihn nicht — sondern weil Trost suchen heißt: dieser Arbeit sein Leben wid­men, am Rande seiner Existenz, fast außer­halb ihrer immer zu leben, kaum mehr zu wissen, für wen man Trost sucht und daher nicht einmal im­stande zu sein, wirk­samen Trost zu fin­den (wirk­samen, nicht etwa wahren, den es nicht gibt)[.]

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Er hat Durst und ist von der Quelle nur durch ein Gebüsch ge­trennt. Er ist aber zwei­geteilt, ein Teil über­sieht das Ganze, sieht[,] daß er hier steht und die Quelle daneben ist, ein zweiter Teil aber merkt nichts, hat höch­stens eine Ahnung dessen, daß der erste Teil alles sieht. Da er aber nichts merkt, kann er nicht trinken.

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Er wehrt sich gegen die Fixierung durch den Mitmenschen. (Der Mensch sieht[,] selbst wenn er unfehlbar wäre[,] im andern nur jenen Teil, für den seine Blickkraft und Blickart reicht. Er hat, wie jeder, aber in äußerster Über­treibung die Sucht, sich so ein­zu­schrän­ken[,] wie ihn der Blick des Mit­menschen zu sehen die Kraft hat.) Hätte Robinson den höch­sten oder richtiger den sicht­barsten Punkt der Insel nie­mals ver­lassen, aus Trotz oder Demut oder Furcht oder Unkennt­nis oder Sehn­sucht, so wäre er bald zu­grunde­ge­gangen; da er aber ohne Rück­sicht auf die Schiffe und ihre schwachen Fern­rohre seine ganze Insel zu erfor­schen und ihrer sich zu freuen begann, er­hielt er sich am Leben und wurde — in einer aller­dings dem Verstand nicht not­wen­digen Konsequenz — schließlich doch gefunden.

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Der Unterschied zwischen dem »Ja und Nein«[,] das er seinen Zeit­genossen sagt[,] und jenem[,] das er eigent­lich zu sagen hätte, dürfte dem von Tod und Leben ent­sprechen; ist auch nur ebenso ahnungs­weise für ihn faßbar.

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Mit seinen absterbenden Gedanken stirbt er nicht. Das Ab­ster­ben ist nur eine Erschei­nung innerhalb der inner[e]n Welt (die be­stehen bleibt, selbst wenn auch sie nur ein Gedanke wäre)[,] eine Natur­erscheinung wie jede andere[,] weder fröhlich noch traurig.