[›Er‹]
Er war früher Teil
einer monumentalen Gruppe. Um irgendeine erhöhte Mitte standen in durchdachter Anordnung Sinnbilder des Soldatenstandes, der Künste, der Wissenschaften, der Handwerke. Einer von diesen vielen war er. Nun ist die Gruppe längst aufgelöst oder wenigstens er hat sie verlassen und bringt sich allein durchs Leben. Nicht einmal seinen alten Beruf hat er mehr, ja er hat sogar vergessen, was er damals darstellte. Wohl gerade durch dieses Vergessen ergibt sich eine gewisse Traurigkeit, Unsicherheit, Unruhe, ein gewisses die Gegenwart trübendes Verlangen nach den vergangenen Zeiten. Und doch ist dieses Verlangen ein wichtiges Element der Lebenskraft oder vielleicht sie selbst.
* * *
Alles, was er tut, kommt ihm zwar außerordentlich neu vor, aber auch entsprechend dieser unmöglichen Fülle des Neuen außerordentlich dilettantisch, kaum einmal erträglich, unfähig historisch zu werden, die Kette der Geschlechter sprengend, die bisher immer wenigstens zu ahnende Musik der Welt zum erstenmal bis in alle Tiefen hinunter abbrechend. Manchmal hat er in seinem Hochmut mehr Angst um die Welt als um sich.
* * *
Er hat das Gefühl, daß er sich dadurch[,] daß er lebt[,] den Weg verstellt. Aus dieser Behinderung nimmt er dann wieder den Beweis dafür, daß er lebt.
* * *
Er lebt nicht wegen seines persönlichen Lebens, er denkt nicht wegen seines persönlichen Denkens. Ihm ist[,] als lebe und denke er unter der Nötigung einer Familie[,] die zwar selbst überreich an Lebens- und Denkkraft ist, für die er aber nach irgendeinem ihm unbekannten Gesetz eine formelle Notwendigkeit bedeutet. Wegen dieser unbekannten Familie und dieser unbekannten Gesetze kann er nicht entlassen werden.
* * *
Er lebt in der Zerstreuung
. Seine Elemente, eine frei lebende Horde, umschweifen die Welt. Und nur weil auch sein Zimmer zur Welt gehört sieht er sie manchmal in der Ferne. Wie soll er für sie die Verantwortung tragen? Heißt das noch Verantwortung?
* * *
Er ist bei keinem Anlaß genügend vorbereitet, kann sich deshalb aber nicht einmal Vorwürfe machen, denn wo wäre in diesem Leben, das so quälend in jedem Augenblick bereitsein verlangt, Zeit sich vorzubereiten[,] und selbst wenn Zeit wäre, könnte man sich denn vorbereiten, ehe man die Aufgabe kennt[,] d. h. kann man überhaupt eine natürliche, eine nicht nur künstlich zusammengestellte Aufgabe bestehn? Deshalb ist er auch schon längst unter den Rädern, merkwürdiger aber auch tröstlicher Weise war er darauf am wenigsten vorbereitet.
* * *
Ein segmentartiges Stück ist ihm aus dem Hinterkopf herausgeschnitten. Mit der Sonne schaut die ganze Welt hinein. Ihn macht es nervös, es lenkt ihn von der Arbeit ab, auch ärgert er sich, daß gerade er von dem Schauspiel ausgeschlossen sein soll[.]
* * *
Er ist weder kühn, noch leichtsinnig. Aber auch ängstlich ist er nicht. Ein freies Leben würde ihn nicht ängstigen. Nun hat sich ein solches Leben für ihn nicht ergeben, aber auch das macht ihm keine Sorgen; wie er sich überhaupt um sich selbst keine Sorgen macht. Es gibt aber einen ihm gänzlich unbekannten jemand, der sich um ihn[,] nur um ihn[,] große fortwährende Sorgen macht. Diese ihn betreffenden Sorgen des Jemand, besonders das Fortwährende dieser Sorgen[,] verursachen ihm manchmal in stiller Stunde quälende Kopfschmerzen.
* * *
Alles ist ihm erlaubt
[,] nur das Sich-vergessen nicht, womit allerdings wieder alles verboten ist bis auf das eine, für das Ganze augenblicklich Notwendige.
* * *
Mit einem Gefängnis hätte er sich abgefunden. Als Gefangener enden — das wäre eines Lebens Ziel. Aber es war ein Gitterkäfig. Gleichgültig, herrisch, wie bei sich zuhause strömte durch das Gitter aus und ein der Lärm der Welt, der Gefangene war eigentlich frei, er konnte an allem teilnehmen, nichts entgieng ihm draußen, selbst verlassen hätte er den Käfig können, die Gitterstangen standen ja meterweit auseinander, nicht einmal gefangen war er.
* * *
Sein eigener Stirnknochen verlegt ihm den Weg (an seiner eigenen Stirn schlägt er sich die Stirn blutig)[.]
* * *
Er fühlt sich auf dieser Erde gefangen, ihm ist eng, die Trauer, die Schwäche, die Krankheiten, die Wahnvorstellungen der Gefangenen brechen bei ihm aus, kein Trost kann ihn trösten, weil es eben nur Trost ist, zarter kopfschmerzender Trost gegenüber der groben Tatsache des Gefangenseins. Fragt man ihn aber, was er eigentlich haben will, kann er nicht antworten[,] denn er hat — das ist einer seiner stärksten Beweise — keine Vorstellung von Freiheit.
* * *
Er hat den Archimedischen Punkt gefunden, hat ihn aber gegen sich ausgenützt, offenbar hat er ihn nur unter dieser Bedingung finden dürfen[.]
* * *
Er hat zwei Gegner
, der Erste bedrängt ihn von rückwärts vom Ursprung her, der zweite verwehrt ihm den Weg nach vorne. Er kämpft mit beiden. Eigentlich unterstützt ihn der Erste im Kampf mit dem Zweiten, denn er will ihn nach vorn drängen[,] und ebenso unterstützt ihn der Zweite im Kampf mit dem Ersten, denn er treibt ihn doch zurück. So ist es aber nur t[h]eoretisch, denn es sind ja nicht nur die 2 Gegner da, sondern auch noch er selbst und wer kennt eigentlich seine Absichten?
* * *
Sich kennt er, den andern glaubt er, dieser Widerspruch zersägt ihm alles.
* * *
Er beweist nur sich selbst, sein einziger Beweis ist er selbst, alle Gegner besiegen ihn sofort, aber nicht dadurch, daß sie ihn widerlegen, er ist unwiderlegbar[,] sondern dadurch[,] daß sie sich beweisen.
* * *
Er hat viele Richter, sie sind wie ein Heer von Vögeln, das in einem Baum sitzt. Ihre Stimmen gehen durcheinander, die Rangs- und Zuständigkeitsfragen sind nicht zu entwirren, auch werden die Plätze fortwährend gewechselt. Einzelne erkennt man aber doch wieder heraus[.]
* * *
»Du machst aus Deiner Not eine Tugend.«
»Erstens tut das jeder und zweitens tue gerade ich es nicht. Ich lasse meine Not Not
bleiben, ich lege die Sümpfe nicht trocken, sondern lebe in ihrem fiebrigen Dunst.«
»Daraus eben machst Du Deine Tugend[.]«
»Wie jeder, ich sagte es schon. Im übrigen tue ich es nur Deinetwegen; damit Du freundlich
zu mir bleibst, nehme ich Schaden an meiner Seele.«
* * *
Manche leugnen den Jammer durch Hinweis auf die Sonne, er leugnet die Sonne durch Hinweis auf den Jammer.
* * *
Er will keinen Trost
, aber nicht deshalb weil er ihn nicht will — wer wollte ihn nicht — sondern weil Trost suchen heißt: dieser Arbeit sein Leben widmen, am Rande seiner Existenz, fast außerhalb ihrer immer zu leben, kaum mehr zu wissen, für wen man Trost sucht und daher nicht einmal imstande zu sein, wirksamen Trost zu finden (wirksamen, nicht etwa wahren, den es nicht gibt)[.]
* * *
Er hat Durst und ist von der Quelle nur durch ein Gebüsch getrennt. Er ist aber zweigeteilt, ein Teil übersieht das Ganze, sieht[,] daß er hier steht und die Quelle daneben ist, ein zweiter Teil aber merkt nichts, hat höchstens eine Ahnung dessen, daß der erste Teil alles sieht. Da er aber nichts merkt, kann er nicht trinken.
* * *
Er wehrt sich gegen die Fixierung durch den Mitmenschen. (Der Mensch sieht[,] selbst wenn er unfehlbar wäre[,] im andern nur jenen Teil, für den seine Blickkraft und Blickart reicht. Er hat, wie jeder, aber in äußerster Übertreibung die Sucht, sich so einzuschränken[,] wie ihn der Blick des Mitmenschen zu sehen die Kraft hat.) Hätte Robinson den höchsten oder richtiger den sichtbarsten Punkt der Insel niemals verlassen, aus Trotz oder Demut oder Furcht oder Unkenntnis oder Sehnsucht, so wäre er bald zugrundegegangen; da er aber ohne Rücksicht auf die Schiffe und ihre schwachen Fernrohre seine ganze Insel zu erforschen und ihrer sich zu freuen begann, erhielt er sich am Leben und wurde — in einer allerdings dem Verstand nicht notwendigen Konsequenz — schließlich doch gefunden.
* * *
Der Unterschied zwischen dem »Ja und Nein«[,] das er seinen Zeitgenossen sagt[,] und jenem[,] das er eigentlich zu sagen hätte, dürfte dem von Tod und Leben entsprechen; ist auch nur ebenso ahnungsweise für ihn faßbar.
* * *
Mit seinen absterbenden Gedanken stirbt er nicht. Das Absterben ist nur eine Erscheinung innerhalb der inner[e]n Welt (die bestehen bleibt, selbst wenn auch sie nur ein Gedanke wäre)[,] eine Naturerscheinung wie jede andere[,] weder fröhlich noch traurig.